Löst MaaS den Privat-PKW ab?

An der Frage, welche Rolle private PKW in zukünftigen Mobilitätsszenarien spielen sollen, scheiden sich die Geister. Robert Bichsel, Product Owner für MaaS bei Siemens Mobility und Svenja Katharina Weiß, Marketing Coordinator bei Hacon, beleuchten in diesem Artikel das Verhältnis von privatem PKW und Mobility as a Service (MaaS).

Es ist nur wenige Jahrzehnte her, dass ein Leben ohne Auto überall auf der Welt die Regel war. Inzwischen ist es vor allem in den Industrienationen für immer mehr Menschen – aber weit nicht für alle –  erschwinglich, ein eigenes Fahrzeug zu haben. Viele PKW-Besitzer möchten das Freiheitsgefühl und den Komfort, den sie mit dem eigenen Wagen verbinden, nicht missen. Auf der anderen Seite steigt das Bewusstsein dafür, dass PKW mit einem Treibhausgas-Ausstoß von 143 Gramm pro Personenkilometer zu den umweltschädlicheren Verkehrsmitteln zählen. Darüber hinaus werden der große Flächenbedarf und der hohe Feinstaubausstoß vor allem in eng besiedelten urbanen Räumen zunehmend zum Problem. Neue Verkehrskonzepte jenseits des PKW werden damit zur drängenden Notwendigkeit.

MaaS wurde zwischenzeitlich als mögliche Problemlösung gehyped: Im Raum stand die Erwartung, dass Mobility as a Service-Plattformen den Privat-PKW nahezu vollständig ablösen könnten. Jetzt, wo MaaS immer häufiger vom abstrakten Konzept zur realen Lösung wird, stellt sich die Frage, ob das tatsächlich möglich ist. Und worin bestehen die Herausforderungen auf dem Weg dahin? Schwerpunkt der Betrachtung soll hier weniger die Frage sein, wie man Neuanschaffungen verhindert, sondern wie man Autofahrer zum Umstieg bewegt.

Warum der Umstieg vom eigenen PKW so schwer fällt

 

a) Rahmenbedingungen und Infrastruktur

In vielen Ländern genießen private PKW umfangreiche Privilegien, die oftmals als selbstverständlich hingenommen werden: Darunter fallen etwa öffentliche Parkräume, die nur teilweise der Parkraumbewirtschaftung unterliegen und entsprechend trotz nennenswerter Instandhaltungskosten kostenlos zur Verfügung stehen. Werden doch Gebühren fällig, steigen diese in der Regel langsamer als die Kosten für die Nutzung des ÖV. Aber auch die Flächenverteilung für den fließenden Verkehr fällt oftmals deutlich zugunsten des motorisierten Individualverkehrs aus. Viele Städte sind Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu autofreundlichen Städten umgebaut worden. Diese vor Jahrzehnten getroffenen infrastrukturellen Entscheidungen wirken noch immer nach und erschweren die Schaffung konkurrenzfähiger Alternativangebote. Auch beim Thema Innovationsförderung genießt der PKW nach wie vor Privilegien: So wurde zwischen 2009 und 2019 in Deutschland etwa 20-mal mehr Geld in die Erforschung des Kraftfahrzeugverkehrs investiert als in die Entwicklung des ÖPNV. Kurzum: Die Rahmenbedingungen sind asymmetrisch.

b)  Verkehrsmittelwahl „auf Autopilot“

Wer ein eigenes Auto hat, fährt es auch. Die nutzungsabhängigen Kosten erscheinen im Vergleich zu den Anschaffungskosten relativ niedrig – insbesondere wenn „versteckte“ Kosten wie Wertverlust oder Wartungsaufwände nicht mitberechnet werden. Außerdem steht das Fahrzeug ohnehin (mehr oder weniger) vor der Tür und ist damit unkompliziert verfügbar. Insofern besteht für viele Autobesitzer kaum ein Anlass, sich aktiv mit Alternativen auseinanderzusetzen – außer vielleicht bei massiven Staus, extrem schlechten Parkmöglichkeiten am Zielort oder Abendveranstaltungen mit Alkoholkonsum. Ansonsten ist der Griff zum Autoschlüssel eine Gewohnheit, die nicht so schnell reversibel ist.

c) Funktionaler Wert: Tür-zu-Tür-Anbindung und maximale Flexibilität

Doch selbst wenn sich Autobesitzer dazu entschließen, Alternativen aktiv zu prüfen, bedeutet das nicht, dass sie sich auch für Bus, Bahn oder Sharing-Rad entscheiden: Denn zu den rationalen/funktionalen Kriterien, die bei der Verkehrsmittelwahl eine Rolle spielen, gehören u. a. Zeitbilanz, Verfügbarkeit/Taktung, Zuverlässigkeit, Komfort, Sicherheitsempfinden und Flexibilität. Hier ist das Auto insbesondere im Vergleich mit dem liniengebundenen ÖV sehr gut aufgestellt. Zu den größten Pro-PKW-Argumenten zählt, dass es einen direkten Tür-zu-Tür-Transport ermöglicht und keine Abfahrtszeiten etc. zu beachten sind. Es ist also extrem flexibel und vielseitig nutzbar. Kaum ein Verkehrsmittel ist isoliert betrachtet konkurrenzfähig zum Auto – zumindest nicht auf jeder Strecke.

d) Starke Emotionalisierung des Autos

Neben dem funktionalen Wert hat das Auto auch einen symbolischen/affektiven Wert, der durch umfangreiche und oft emotionale Werbekampagne der Automobilindustrie weiter gefestigt wird. Wie bereits eingangs erwähnt, repräsentiert das eigene Auto für viele Menschen ein Lebensgefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Spaß am Fahren oder auch soziale Distinktion (Status-Symbol) sind weitere Motivatoren für Anschaffung und Nutzung privater PKW. Diese Faktoren sind weitgehend unabhängig von der Angebotsqualität im ÖV.

e) Überzeugung ungleich Handeln

Gemeinhin gilt die Annahme, dass insbesondere bei den jüngeren Generationen ein gestiegenes Nachhaltigkeitsbewusstsein auch mit entsprechenden Verhaltensänderungen einhergehen und einen weitgehenden Verzicht auf Privat-PKW bedingen würde. Studien zeigen aber, dass die Effekte nicht so stark sind wie allgemein angenommen. Grundsätzlich ist, unabhängig von der Bezugsgruppe, das Phänomen des attitude-behavior gap bekannt. Gründe für das Auseinanderfallen von Überzeugung und Handlung können etwa Informationsdefizite, mangelnde Überzeugung von der Wirksamkeit der eigenen Verhaltensänderung oder auch praktische Hemmnisse sein. Hier spielen dann auch die in c) angeführten Aspekte wieder hinein. Sprich: Selbst in Gruppen mit hohem Bewusstsein für die Probleme der PKW-Nutzung ist es kein Selbstläufer, eine Verhaltensänderung zu erzielen. 

Was können MaaS-Plattformen leisten?

Die Grundidee hinter dem MaaS-Paradigma ist, dem Endkunden immer genau das Mobilitätsangebot zur Verfügung zu stellen, das seinen Bedürfnissen in der aktuellen Situation am besten gerecht wird. Das ist im Grundsatz zunächst verkehrsmittel„agnostisch“ und fördert (und fordert) vor allem die Vielfalt der Angebote. Je nach Kundenbedürfnis kann der private PKW daher auch innerhalb einer MaaS-Lösung seinen Platz und seine Daseinsberechtigung haben.

Aber: MaaS-Plattformen können ein Mittel zur Umsetzung von Mobilitätsstrategien sein und etwa von Kommunen gezielt als Steuerungswerkzeug eingesetzt werden, um Nutzer in den ÖV und zu anderen umweltfreundlicheren und effizienteren Modi zu bewegen. Inwiefern?

Wie bereits erwähnt, ist kein anderes Verkehrsmittel für sich genommen so flexibel und komfortabel wie das eigene Auto. Bietet man aber für verschiedene Situationen unterschiedliche Verkehrsmittel an und verbindet diese darüber hinaus in intermodalen Reiseketten, steht es um die Konkurrenzfähigkeit des ÖV-Angebots schon deutlich besser. MaaS-Plattformen leisten diese Integration und machen alle Optionen an einem zentralen Ort sichtbar. Je breiter und orchestrierter das multi- und intermodale Angebot ist, desto attraktiver ist es als Alternative zum privaten PKW. Besonders entscheidend ist hier, dass die verschiedenen Modi sich nicht kannibalisieren, sondern sinnvoll ergänzen. Der öffentliche Verkehr bietet mit seinen großen Gefäßen die effizienteste Möglichkeit, stark frequentierte Hauptrouten zu bedienen. Die erste und letzte Meile sowie niedrig frequentierte Gegenden und Zeitfenster werden bestenfalls mit Sharing-Angeboten und On-demand-Services flexibel bedient. Der Vereinfachung der ersten und letzten Meile kommt gerade im Vergleich zum Privat-PKW eine große Bedeutung zu, denn so können Tür-zu-Tür-Routings angeboten werden, die in Sachen Zeitaufwand, Komfort und Flexibilität konkurrenzfähig sind.

MaaS-Plattformen vernetzen nicht nur unterschiedliche Fortbewegungsmodi, sondern vereinfachen auch die dazugehörigen Prozesse spürbar, indem sie eine zentrale Anlaufstelle für Auskunft, Buchung, Bezahlung und digitale Reisebegleitung bieten. Das macht die Angebote niedrigschwelliger zugänglich. Das ist insofern bedeutsam, als dass vor einer privaten Autofahrt kaum Vorkehrungen getroffen werden müssen. Die Umstiegsbereitschaft ist bei niedrigem Bürokratieaufwand entsprechend höher.

Digitale Plattformen bieten nahezu unbegrenzte Möglichkeiten zum so genannten Nudging, also der Streuung von subtilen (nicht-ökonomischen) Anreizen zwecks Verhaltenssteuerung. So können etwa besonders umweltfreundliche Verbindungen priorisiert angezeigt werden, der errechnete CO2-Ausstoß defaultmäßig in die Auskunft integriert, Gamification-Elemente eingebaut, personalisierte Empfehlungen ausgegeben oder Push-Nachrichten zu neuen Mobilitätsangeboten ausgespielt werden.

Vor welchen Herausforderungen stehen MaaS-Akteure?

Trotz aller Potenziale kann man nicht davon ausgehen, dass MaaS über Nacht das Mobilitätsverhalten hartgesottener Petrolheads auf links drehen wird. Viel mehr werden neue Angebote ein stückweises Umdenken und Umlernen fördern. Für das Gelingen der Verkehrswende wird aber eine Mischung aus Push- und Pullmaßnahmen nötig sein. MaaS-Plattformen dienen hier vor allem der Stärkung des ÖV. Parallel müssen jedoch die unter a) angeführten Privilegien des motorisierten Individualverkehrs abgebaut werden. Damit MaaS-Plattformen wirksam auf einen Rückgang der PKW-Nutzung einzahlen, gilt es einiges zu beachten:

MaaS-Plattformen sollen die Vielfalt des Verkehrsangebots sichtbar machen. Dafür müssen sie selbst aber erst einmal Bekanntheit erlangen und potenzielle Nutzer davon überzeugen, eine MaaS-App auszuprobieren. Kurz: Kluges und umfassendes Marketing ist dringend notwendig. Das Nutzenversprechen sollte dabei konkret, zielgruppengerecht und aufmerksamkeitsstark formuliert sein. Ein ÖV-Pendler, der bereits die App seines örtlichen Verkehrsunternehmens regelmäßig nutzt, muss anders angesprochen werden als jemand, der nur zwei Mal im Jahr mit dem ÖV Berührungspunkte hat und ansonsten jeden Weg mit dem Auto zurücklegt. Aufgrund der in b) angesprochenen gewohnheitsmäßigen Autonutzung müssen attraktive Anreize geschaffen werden, sich mit der Vielfalt an Fortbewegungsoptionen auseinanderzusetzen. Hier besteht auch die Chance, Mobilität als Lifestyle-Thema zu besetzen und für ÖV und New Mobility ähnlich emotionale Ansprachen zu entwickeln wie in der Automobilindustrie. Sehr erfolgreich ist mit diesem Ansatz etwa die BVG (Berlin).

MaaS-Angebote werden vor allem für den urbanen Raum konzipiert. Das ist auf den ersten Blick nachvollziehbar, denn dort ist das Verkehrsangebot in der Regel vielschichtiger. Es gibt also – einfach gesagt – mehr, was man vernetzen kann. Außerdem besteht die Annahme, dass einige Angebote, etwa Sharing-Dienste, nur im städtischen Umfeld wirtschaftlich zu betreiben seien. Das heißt aber auch, dass in Städten in der Regel schon relativ gute Alternativen zum Auto bestehen, wohingegen die Abhängigkeit in ländlichen Räumen oft sehr groß ist und bleibt. Hier gilt es, intelligente Lösungen zu finden –  etwa mithilfe von kosteneffizienten On-Demand-Verkehren als Zu- und Abbringer.

Zielsetzung von MaaS-Plattformen sollte sein, ALLEN Menschen bedarfsgerechte Mobilität anzubieten. Höchstmögliche Barrierefreiheit ist entsprechend sowohl für die MaaS-App als auch für die darin angebotenen Mobilitätsdienstleistungen selbst ein Muss. Ein Beispiel von vielen: Für Menschen, die z. B. aufgrund von Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates keine langen Fußwege zurücklegen können, ist das Auto aufgrund des Tür-zu-Tür-Transports besonders attraktiv. Hier ist es immens wichtig, die erste und letzte Meile einer Reise komfortabel zu gestalten und zuverlässige Informationen über die Barrierefreiheit von Fahrzeugen und Haltestellen bereitzustellen.

(Private) PKW sollten in der Konzeption von MaaS-Lösungen nicht außenvorgelassen und „gebrandmarkt“, sondern sinnvoll integriert werden. Das kann zum Beispiel bedeuten, Park&Ride-Szenarien im Routing abzubilden, die Entrichtung von Parkgebühren nahtlos über die MaaS-App abzuwickeln und Carsharing-Dienste zu integrieren. Auch ein reines PKW-Routing als Alternative zum intermodalen Routing sollte in einer MaaS-App auswählbar sein – bestenfalls mit transparenter und vollständiger Darstellung der Kosten (km-Pauschale für Verschleiß und Wertverlust, erwartete Parkgebühren) und Zeitaufwände (Parkzeit, prognostizierte Wegzeit von Parkmöglichkeit zur Zieladresse) sowie des CO2-Ausstoßes. So wird zumindest eine faire Vergleichbarkeit hergestellt.

Fazit: Wandel in kleinen, aber entschlossenen Schritten

Wie bereits angedeutet, ist eine vollständige Verdrängung des privaten PKW zeitnah nicht realistisch. Ggf. ist sie zumindest aus Nachhaltigkeitsgründen auch nicht zwingend geboten: Es ist ja durchaus denkbar, dass neue Antriebsformen das Emissionsproblem zumindest teilweise lösen und städteplanerische Ansätze eine Raumverteilung gefunden werden, die demokratischer ist und eine hohe Lebensqualität gewährleistet. In beiden Fällen ist ein Umstieg auf Raten das wohl wahrscheinlichste Szenario: Von der pauschalen zur selektiveren Nutzung des PKW; von der vorherrschenden Fortbewegungsart zu einem Mobilitätsmodus von vielen im Mix. MaaS hat also das Potenzial, den Privat-PKW zumindest in Teilen/stufenweise abzulösen. Dafür ist allerdings noch ein Stück Weg zu gehen.

Die wichtigsten Erkenntnisse:

  1. MaaS-Plattformen schaffen es, durch die multi- und intermodale Bündelung von Mobilitätsangeboten Alternativen zu schaffen, die unter rationalen Kriterien konkurrenzfähig zum eigenen PKW sind.
  2. Dafür ist es zentral, dass die Plattformen vor allem die Herausforderungen der ersten und letzten Meile effizient und komfortabel lösen, etwa durch Integration von On-Demand-Verkehren.
  3. Um in der Breite der Bevölkerung tatsächliche Verhaltensänderungen herbeizuführen, müssen MaaS-Initiativen aber nicht nur praktikable Angebote unterbreiten, sondern ihre Zielgruppen auch emotional ansprechen.
  4. Die Bedienung der MaaS-App sollte für den Nutzer so intuitiv und zeitsparend wie möglich sein, um „bürokratische“ Einstiegshürden zu vermeiden.
  5. Erfolgreiche MaaS-Lösungen lassen sich nicht im Alleingang umsetzen, sondern erfordern eine enge Kooperation und Kommunikation aller Stakeholder. Integration und Kooperation sind wesentliche Grundprinzipien von MaaS. Daher sollten MaaS und motorisierter Individualverkehr auch weniger als konträre, sondern vielmehr als komplementäre, ggf. sogar als überlagernde Konzepte verstanden werden.